Die Lunte TAKSIM Gezi-Park ist gezündet: die Massen sind auf den Strassen.
Und nicht nur in Istanbul.
Es gibt im Prinzip nur 4 Regierungsbezirke in der Türkei, die vom Erdoğan - Protest verschont blieben: 4 Regierungsbezirke in Südostanatolien.
Das die "gelenkten Massen" in diesen 4 Regierungsbezirken bei jedem Satz des weggeknasteten PKK-Führers Öcalan auf die Strassen gingen, sei hier ebenso vermerkt wie die Unfaehigkeit der ethnisch-nationalen Kurdenpartei BDP, bei diesem Volks-Widerstand gegen Erdoğan WERTFREI und ohne eigene Propaganda mitzumachen. Wieso auch: Die Chapulcu's lieben die Türkei, ihre Fahne. Ob Christen, Armenier oder Juden, alle Türken verschiedenster ethnischer Herkunft und Anschauung machen bei dem Widerstand mit. Das eint das Volk - etwas, das Erdoğan eigentlich so gar nicht geplant hatte.
Die AKP - Nomenklatura hingegen analysiert, taktiert und versucht zu verstehen.
Immer wieder springen Aperatschiks der AKP hin und her zwischen 'wenn wir wollen, können wir alles' und zaghaften 'vielleicht haben wir ja auch Fehler gemacht'...
Torpediert werden diese Anstrengungen der Partei-Nomenklatura jedoch durch ihre Galeonsfigur selbst: Recep Tayyip 'Meister' Erdoğan.
Bei seiner Flucht in die Maghrib-Staaten, - just als die Polizisten und Spezialeinheiten der Polizei auf die eigene Bevölkerung eindrasch - erlebte Erdo zwar dezente Ausladungen in Marokko und Tunesien. Doch in Algerien und Aegypten konnte er seine Wunden schnell lecken:
"Der Park wird abgerissen, Die ehemalige osmanische Topçu Kaserne wird wieder errichtet. Darin kommt ein dickes EKZ und Wohn-Residenzen. Und das Atatürk Kulturzentrum am Taksim Platz reissen wir auch ab - statt dessen kommt da eine moderne Oper hin."
Da schoss Erdo also im Probe-Exil den Bock ab und zeigte dem störrischen Volksaufstand schon das naechste Objekt des Aufstandes.
Doch halt - weiss eigentlich noch jemand, was der eigentlich Grund für die Situation heute in der Türkei ist? Warum platzte der Kragen der "Durchschnitts-Türken"?
Faschistische Tendenzen der AKP - die schlimmsten Diktaturen waren zivile Diktaturen....
Die AKP wurde ja jahrelang als Paradeobjekt für erfolgreiche Reformen im westlich - neoliberalistischen Sinne propagiert. Bei der Zerbröselung des Militaereinflusses hat die AKP - ebenso wie bei der Demontage des vom Westen als hinderlich angesehenen Kemalismus (eine stark etatistische, betont antiimperialistische Führungsweise des Staates) mehr als gut funktioniert.
Doch der Ton von Erdoğan wurde seit den obskuren Prozessen 2007 in Silivri, die staendig einen neuen Staatsputsch aufdecken sollten, immer merkwürdiger.
Früher redete man bei der AKP von wir und uns. Vor den Wahlen ist dies auch nach wie vor so.
Doch gerade 2 Tage zuvor sprach Erdoğan in Adana vor Tausenden hergekarrter Massen (sogar unter Androhung von Jobverlusts, wenn sie als Beamte nicht zu der Kundgebung Erdoğans' gingen) zu dem "Widerstand":
"Wenn Euch was auf dem Herzen liegt, dann sagt es meinem Bürgermeister, oder meinem Gouverneur, oder meinem Innenminister. Oder findet ein paar Sprecher für Eure Sache und kommt direkt zu mir! Aber wenn ihr nicht mit den Demonstrationen aufhört, dann werde ich in der Sprache antworten, die ihr versteht!"
Alle Organe des Staates sind also somit Erdoğans' Besitz:
Mein Bürgermeister.
Mein Gouverneuer.
Mein Innenminister.
Neben der offenen Androhung von Staatsterror zeigt Erdoğan also ganz offen diktatorische Züge. Gerade in diesem Punkt wollen viele Schichten in der Türkei nicht mehr mit Erdoğan. So einfach.
Abhörung, Druckausübung, Einschüchterung
"Seht ihr. Eure kemalistischen Generaele haben wir eingeknastet. AKP-Regimekritische Schreiber, renitente Professoren und NGO-und Vereinsleiter sowie Lobbyisten sind auch weggeknastet. Sogar 4 Politiker sind im Silivri-Knast. Passt also auf. Geht arbeiten und haltet das Maul."
Das ist die Message Erdoğans' an Andersdenkende.
Der Innenminister kann nicht annaehernd angeben, wieviel Menschen in der Türkei abgehört werden. Man geht von 140.000 REGISTRIERTEN Abhörungen aus im Jahr.
In den Stadtverwaltungen, den staatlichen Unis etc. ist der Druck gross:
Mit dem simplen Instrument "Performanzbeurteilung" kann ganz frank und frei jeder Aufmüpfiger im System seinen Job loswerden. Das ist kein Witz!
So bringt man heutzutage die Behörden ganz einfach auf Linie...
Autozensur der Presse
Die chronische Autozensur der Presse führte dazu, das die Telenovelas und Schlager- und Talentshows auch in der Türkei explodierten. Neben einem halben Dutzend Sender hat heuer kein Fernsehsender die Genitalien, echte Nachrichten zu bieten.
Die Zeitungen erlebten dies ebenfalls: Kritische Journalisten wurden durch die Redaktion zenisert, "erzogen" oder wie seit geraumer Zeit auch üblich, gekündigt. 'Es gehen immer wieder Listen herum' heisst es in Journalistenkreisen, die bestimmte Organe der AKP verteilen und so Namen von Journalisten auf den eigenen AKP-feindlichen 'Index' stellt.
Selbst die Neo-liberale Schmusekurs-Presse liegt seit diesem Jahr im Klinsch mit der AKP. Die taraf, RADIKAL und sogar die Gülen-Sektengazette ZAMAN (Zeit) schreiben regelmaessig Kolumnen gegen die AKP, nach dem ihre journalistischen Grossfiguren auf den Index der AKP landeten und gekündigt wurden - und so von der dicken Gehaltsliste genommen wurden....
Eingriff in das Privatlebens des Einzelnen durch die AKP
Es ist wie eine Lachnummer: Erdoğan trimmt die Türkei auf 3 Kinder. 2 Jahre spaeter sollte man sogar 5 Kinder haben.
Darauf folgte ein umstrittenes Gesetz, das die Gewalt an Frauen relativierte.
Darauf folgte ein Gesetz, das die Abtreibung als auch die 'komfortablere' Kaiserschnitt - Entbindung erheblich erschwerte.
Selbst beim Brot machte Erdoğan nicht halt: "Esst kein Weissbrot".
So geht der Verhaltensindex weiter:
"Guckt diese Sendungen", "kauft diese Zeitungen nicht", "Wer nicht mit uns ist ist gegen uns" etc. etc.
Vor einem Monat schoss die AKP den Bock ab: der Verkauf und der öffentliche Konsum von Alkohol wurde erheblich eingeschnitten. Erst jüngst erschien er im Fernsehen und behauptete: Wer Alkohol trinkt, ist Alkoholiker. Kein Flachs!
Ein klarer Verstoss gegen den Paragraphen 28 der türkischen Verfassung, der den Eingriff in die Privatsphaere und den 'freien' Lebensstil des Einzelnen garantierte. Der Staatspraesident Gül wird dieses Gesetz - und das ist neu für ihn - wohl kippen (Korrektur: Auch ihm fehlen die Genitalien: das Gestz wurde durchgewunken :\).
Verschulden des Bürgers - ein Garant für Frustration
In der Türkei befindet sich die Privatverschuldung der Bürger mittlerweile bei ca. 120 Milliarden Euro. Durch die seit 2002 kontinierliche 8% 'offizielle' Inflation, die den Wert des Erarbeiteten chronisch auffrisst, muss der Bürger immer öfter Privatkredite aufnehmen, um seinen Lebensstil zu halten. Es ist eine soziologische Inkompetenz des Menschen an sich: Man kann sich schnell an einen teureren Lebensstil anpassen - an einen billigeren jedoch nicht! Unter dieser Massenverschuldung geraten Menschen und Familien immer mehr unter Druck. Depressionen und Frustrationen, explodierende Scheidungen, ein weiterer Verfall der Wert und der Ethik in der Gesellschaft sind somit unausweichlich.
Problematische Auslandspolitik
Mit Syrien hat das Tandem Erdoğan - Davutoğlu (Aussenminister) den Bock geschossen. Alle 3 Monate bekam das Volk die Meldung: Essad ist naechsten Monat Geschichte. Seit 2 Jahren geht das so. Die Grenzregion schaetzt den Verlust des Grenzhandels auf etwa 800 Mio. €. für dieses Jahr. So macht man sich als Erdoğan ebenfalls keine neuen Waehler.
Die Patriot - Raketen sind ebenfalls eher kritisch als neutral empfangen worden von den Türken. Das mussten leider sogar auch deutsche Soldaten mitbekommen vor Ort.
Das Verprellen der Azerbaidschan - Türken zugunsten der Armenier (weil die USA eine einseitige Dialog - Politik Erdoğan 'nahelegten') half ebenfalls nicht, Waehlerstimmen zu staerken.
Neuformung der türkischen Gesellschaft mit Öcalan - Korrekturen
Was richtig und was falsch ist, sollte eine neue Verfassung regeln. Obwohl 3/4 der Gesetze der alten Verfassung an internationales und europaeisches Recht angepasst wurde, war dies Erdogan nicht genug. Noch weniger Türke, stattdessen mehr -irgend-was-aber-nicht-Türke- war in den Gedanken unseres Ursprungs-Georgiers. Das der türkische Staat niemals den Türkischen Staatsbürger als Ethnie sah, vergass Erdogan.
Sein Kooperationspartner war somit die kurdisch-nationale BDP, ein politischer Arm der PKK. Erdoğan schluckte viele Kröten, damit er auf das Militaer nicht mehr angewiesen war: staendig starben soldaten und Zivilisten bei Zwischenfaellen mit der PKK. Etwas, das es vor der Amtsübernahme Erdoğans' nicht mehr gab. Der Terrorismus war sprichwörtlich Geschichte. Doch durch bewusste Rücknahme der Kontrolle in der Region konnte sich die PKK im Irak ihre Wunden lecken und neu formieren.
Heute haben wir einen durch Öcalan ratifizierten Verfassungsentwurfs. Sprengstoff für das Volk also.
Den Bock schoss Erdoğan wieder damit ab, das er 64 'Weise' durch's Land laufen liess, um den Friedensprozess mit der PKK (?) dem türkischen Volk zu erlaeutern. Leider hat dieser Verein der Weisen, der aus Musikern, Warmwasser - Demokraten, AKP - Schönredner - Journalisten etc. bestand, kein Briefing für das Thema an sich erhalten: Überall wo sie Symposien starteten, kamen Fragen auf vom Volk. Fragen, die niemand beantworten konnte.
So wurde diese Delegation schnell umtituliert: Nach der Kapitulation des Osmanischen Reiches, schickte die damalige ("Braeutigam Ferit" -) Regierung, die von den britischen Besatzern nominiert wurde, eine Delegation ins Land, die der Bevölkerung die "koschere Natur" der britischen Soldaten und Besatzer erklaeren sollte. Klappte natürlich - nicht.
Von da an war auch dieses Thema "Weise erlaeutern den Friedensprozess mit einer Terrororganisation, die ihre Waffen nicht abzugeben gedenkt", gegessen und stekt nun in einer Sackgasse.
Ein Premier, der - taktisch klug - weg ist, wenn's brennt
Jedesmal, wenn ein Problem eskaliert, sich eine Krise abzeichnet, problematische Gesetze durchgboxt werden: Erdğan ist immer im Ausland. Bei dem Bombenanschlag in Reyhanlı setzte sich Erdoğan in dne Flieger, um sich neue Briefings in Sachen Syrien von Obama abzuholen. Man stelle sich einmal vor, das die Kanzlerin bei einer Naturkatastrophe zu Obama fliegt und dort guckt, wie hoch die Gardenien gewachsen sind...
2012/2013 musste Erdoğan daher immer öfter mal 'weg': Es laeuft eben nicht gut in der Türkei.
Die Demontage staatlicher Werte durch die AKP
Der Prozess 'Demontage staatlicher Werte' begann eigentlich stufenweise in der Türkei. Nach dem Wegknasten der für die AKP und die NATO 'kritischer' Generaele nahmen der Staatspraesident Gül als auch Erdoğan immer seltener bei den Festlichkeiten der staatlichen Feiertage teil. Akute Grippe/Arbeitsreise - die Gründe waren flach und laecherlich.
Nach der 2. Wiederwahl der AKP 2011 legte die AKP den 2.Gang ein:
Sie fing an, staatliche Festlichkeiten 'abzusagen'. Das führte widerum dazu, das die Bevölkerung mit der Opposition ihre staatlichen Feiertage in den Stadtverwaltungen 'selbst' feierte.
2012: hier verbot die AKP erstmals das Feiern staatlicher Feiertage! Sie stellte sogar die Kranzlegung an Denkmaelern unter Strafe!
2011 - ein Wendejahr: der Widerstand formt sich
Hunderttausende TEKEL - Abgeordnete wehrten sich gegen die Privatisierung des Tabak- und Alkoholbetriebs, der Milliarden von Euro in die Kassen der Regierung spülte und somit als attraktives Privatisierungsobjekt galt. Die Entlassung von 10 Tausenden Arbeitern brachte die Menschen damals in Massen auf die Strassen - hier konnte die Polizei aber mit Traenengas und (Jauche-Gemisch schleudernden) Wasserwerfern den Generalaufstand - vorerst - brechen. Unter anderem protestierte man hier auch am Taksim - Platz.
Am 1.Mai 2012 protestierte man wie gewohnt am Taksim - Platz. Alles erstaunlich freidlich.
Am Staatsfeiertag im 19.Mai 2012, das als Jugend- und Sportfest und Gedenkfest Atatürks gefeiert wird, mobilisiert die Vereinte Türkische Jugend (TGB) 250.000 Menschen in Istanbul und marschierte zum Dolmabahçe - Saray. Von Taksim - Platz aus. Die Polizei hielt auch hier überraschend 'still'.
Die darauf folgenden Staatsfeiertage wurden somit zu einem Zeichen des Volkes, sich nicht alles munter gefallen zu lassen. Immer wieder formierten sich Hunderttausende, die trotz Verbots auf den Strassen feierten:
Am 29.Oktober 2012 (Feiertag der Republik) waren 1 Million Menschen auf den Strassen in Ulus/ANKARA. Dort hat man zum ersten Mal erfolgreich die Linien der Sicherheitskraefte durch die Wucht der Massen brechen können.
2013 begann rasant:
Der Schauprozess 'Ergenekon' in Silivri erlebte mehrmals aufregende Tage. Durch die folgenden Proteste ein paar Monate spaeter kam es sogar zur Unterbrechung der 'Verhandlungen' mit ausserordentlichen Fehltritten der türkischen Justiz, die aber mittlerweile als 'normal' angesehen werden.
Mit dem Verbot des Feierns des 1.Mai 2013 auf dem Taksim - Platz (Grund: Baustellenarbeiten) hat die AKP - Regierung das Problem nur scheinbar entschaerft.
Die Chronologie des Widerstands zeigt eindeutig, das die AKP seit 2011 erhebliche Probleme hat, seine Interessen plausibel zu erklaeren und durchzusetzen.
Bei den aktuellen Massenprotesten in der ganzen Türkei stellt sich jedoch eine andere Frage:
Wie kann es sein, das eine Partei, die 50% der Wahlstimmen 'sein Eigen' nennt, solch' einen Widerstand vor sich sieht?
Letzte Wahlprognosen bescheinigen das Gegenteil: Die AKP sei auf 34% zurückgeschrumpft. Sowohl die oppositionelle MHP als auch die CHP legten deutlich zu. Das ist aber abzuwarten...
Turanoid geht hier einen Schritt weiter:
Bei dem digitalen Wahlsystem SEÇSİS wurden mehrmals erhebliche Sicherheitslücken aufgedeckt - zuletzt sogar durch REDHACK.Seit der Einführung der Wahlsoftware SEÇSİS im Jahre 2007 ist somit keine Wahl in der Türkei 100% befreit von Wahlmanipulationen und Wahlbetrug.
Der Taksim - Widerstand, der sich auf die ganze Türkei ausgebreitet hat, ist somit ein deutlicher Beweis, das auch die Legitimation der AKP mehr als fragwürdig ist.
Die 90'er haben keinen Bock auf Bevormundung und Werte- und Freiheitseinschnitte.
Viele haben auch enfach keinen Bock mehr auf die süffisante Art Erdoğans.
Sie verstehen die jahrelange Inhaftierung von Angeklagten nicht.
Sie reagieren übelst auf die Schwaerzungsaktion der AKP bzgl. kemalistischer und republikanischer Werte, mit denen sie gross geworden sind.
Sie wollen keinene Eingriff in ihr Privatleben.
Sie haben genug von den Schickanierungen im Bildungssystem.
Und: sie fühlen sich von keiner grossen Partei in der Türkei vertreten!
Die Show 'Erdoğan' ist so gesehen eigentlich vorbei...Das weiss man zumindest.
Aber erst nach der Kontrolle der Institutionen von einer anderen Regierung ist ein Aufdecken von all den anti-demokratischen, illegalen, veruntreuerischen, betrügerischen und faschistoiden Handlungen der AKP auszugehen.
Daher der Kampf Erdoğans zur Bewahrung des Status Quo.
Das riecht doch zumindest etwas nach Erneuerung und Revolution - oder nicht?
