1.4.09

Kommunalwahlen 2009 in der Türkei korrekt interpretiert

Man kann in der Welt, im Spiegel, in der Zeit etc. kurze Resumees von den Kommunalwahlen in der Türkei lesen. "Erdoğan's AKP weiter staerkste Partei" oder "Die AKP hat sich erneut legitimiert" und so weiter.

Doch werten wir die Wahlen doch einmal korrekter aus, liebe Presse. Da sind Trends vorhanden, Waehlerbewegungen und nicht zu vergessen eine Wahlbeteiligung von über 81%!


Orange - AKP, Rot - CHP, Blau - DSP, Violett - MHP, Grün - DTP


Also halten wir fest:


  • Die AKP hat die Kommunalwahlen gewonnen
  • Sie hat mit knapp 39% rund 9% Stimmen verloren
  • Die sozialdemokratisch-republikanische CHP hat mit knap 24 % der Stimmen fast Zwei Millionen Waehler zurückgewonnen
  • Die nationalkonservative MHP hat ebenfalls fast eine Million neuer Stimmen zurückerobert
  • Die im PKK-Fahrwasser schwimmende kurdisch-focussierte DTP hat ebenfalls zwei weitere Kommunen der AKP entreissen können
  • Ecevits sozialdemokratische DSP (ein CHP - Ableger) konnte sein Waehlerpotential halten

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och nun müssen wir weiterlesen. Was ist noch passiert?
  • Die AKP haengt in Anatolien fest. Weder Thrakien, noch die Aegaeis oder der Mittelmeerraum sowie im Grossen und Ganzen die Schwarzmeerküste trauen der AKP Regierungsgeschaefte zu. In diesen liberaleren und demokratischeren Gefilden hat sich anscheinend AKP Katerstimmung breitgetan. Die globale Krise erfahren diese Regionen auf Grund ihrer staerkeren industriellen Rolle mehr als das rurale Anatolien.
  • Zahlreiche Minister haben ihre Waehlerbasis verloren. Das Kabinett muss daher umgebildet werden, da den Ministern ihre Waehlerbasis fehlt (dies ist in den türkischen Regierungsgeschaeften üblich)
  • In Istanbul hat die linke CHP mit "Ghandi - Kemal" Kılıçdaroğlu das beste Ergebnis seit 30 Jahren erzielt (37%) und lieferte bis zuletzt ein Kopf-an-Kopf Rennen mit dem derzeitigen Bürgermeister der AKP, Topbaş
  • Paradox: in Ankara konnte der zweifelhafte Bürgermeister Gökçek mit knapp 37% der Stimmen zum dritten Mal Bürgermeister werden, obwohl er des Bürgerbeschisses überführt wurde.
  • Die ehrenamtlichen Wahlhelfer der Opposition wurden besser auf Wahlbetrügereien vorbereitet und konnten so zahlreiche Betrugsversuche von AKP - Wahlhelfern aufdecken. So wurden AKP-Bürgermeister beim 'Frisieren' von Wahlergebnissen ertappt, saeckeweise Stimmzettel der Oppositionsparteien auf den Strasssen abgeladen gefunden und nachgereicht, und sogar ein Wahlurnenklau aus einem CHP/MHP - lastigen Stimmbezirk in Ankara aufgedeckt
  • In den Grosstaedten Ankara und Istanbul fielen waehrend der Dateneingaben am Sonntag Abend bis zu 5 mal hintereinander der Strom aus, so das die Wahlcomputer geresetted werden mussten! Ein enstprechender Datenverlust ist somit denkbar
  • Die Bevölkerung in Südostanatolien wurde auf Grund fehlender vernünftiger Kandidaten der grossen Oppositionen CHP und MHP lediglich die Wahl zwischen der wirtschaftsliberalistisch-islamischen AKP und der kurdisch-ethnofaschistischen DTP gelassen. Dies ist eines der grössten Fehlleistungen der Opposition.

Nun werden Wahlanalysen gemacht. Doch einiges ist klar geworden:
  • Die Bevölkerung gibt der AKP die Schuld an die Rezession im Lande. Hunderte von Produktionsbetriebe schliessen. Die Aussagen Erdoğans', die Krise sei "an der Türkei vorbeigerauscht", kaufen die Waehler nicht ab.
  • Mit Wahlgeschenken wie Kühlschraenken und kostenloser Braunkohlelieferung in den aermeren Regionen kann die AKP keine weiteren Stimmen mehr 'kaufen'
  • Die AKP konnte auch keine weiteren Stimmen im pseudoliberalen Lager gewinnen oder halten, da das Militaer mit ihren eigenen Geschaeften zu tun hat und sich derzeit für die türkische Politik nicht sonderlich interessiert. Das Zanken mit dem Militaer blieb aus
  • Eine 'Aufdeckung' eines angeblichen Staatsstreichversuches bestehend aus pensionierten geritraeren Generaelen, AKP-kritischen Schriftstellern, Gewerkschaftsbossen, Medienchefs und einigen Mafiagrössen in der Legisalaturperiode der AKP hat der AKP nicht geholfen. Im Gegenteil: die Diffamierung angesehener Personen des öffentlichen Lebens in diesem zweifelhaften Verfahren (der "Ergenekon" - Prozess) schiesst nach hinten. Der Prozess wird zusehends als Versuch der AKP gedeutet, opponierende Stimmen gegen die Regierung mundtot zu machen. In den demokratischeren, liberaleren Küstengebieten der Türkei hat die AKP daher so gut wie jede Region verloren.
Die Talfahrt der AKP hat begonnen.

Jeder weitere Monat mit schlechten Zahlen in der Wirtschaft, jede weiterer Monat, den die AKP die Krise in der Türkei mit Ignoranz begegnet, jeder weitere Veruntreuungsskandal von AKP - Grössen ist ein weiterer Sargnagel für die AKP. Jeder weitere Monat im türkischen Guantanamo (der Ergenekon Prozess) wird weitere Stimmverluste für die AKP bringen.

Die AKP muss sich neu justieren. Kann sie das nicht, wird sie die naechste Wahl verlieren.

Und das ist gut so.

Der globalistische 'totale Kapitalisitismus' der AKP war/ist lediglich ein Ausverkauf von nationalen, z.T. strategischen Besitztümern der Türkei. Das Ausmass der Schaeden werden erst durch eine andere Regierung und die dadurch erst möglichen Recherchen/Analysen möglich. Der oligarchische Druck der AKP auf Andersdenkende und laizistische Grundsaetze in der türkischen Bevölkerung ist mit der Ergenekon - Prozesfarce bedenklich geworden.

Doch auch die Opposition muss zwingend ihre Hausaufgaben machen. Bei der CHP steht eine neue Galleonsfigur zur Wahl an (Kemal Kılıçdaroğlu), ein Zurückwandern der linken Splittergruppen zur CHP ist ebenfalls zwingend. Eine staerkere Praesenz in Ost- und Südaostanatolien sind Hausaufgaben, den die grossen Oppositionsparteien ebenfalls dringend erledigen müssen.

Auch der Westen sollte die Behandlung des 'demokratischsten Partners' überdenken. Natürlich ist die AKP ein willkommenes Werkzeug, den Kemalismus in der Türkei zu demontieren. Doch die Beweggründe der AKP decken sich nicht mit denen der EU. Rund 2/3 der AKP-Abgeordneten sind Mitglieder in z.T. fundamentalisitschen, islamischen Sekten. Diese 'Post-Osmanen' haben ein Problem mit der Republik als Staatsform und natürlich auch mit Mustafa Kemal Atatürk, der die Religion grundlegend von der Politik trennte und auch im öffentlichen Leben verbannt hat. Religion sollte nach den kemalistischen Prinzipien eine reine 'innere Angelegenheit zwischen dem Menschen und dem Schöpfer' sein. Mehr nicht.

Die EU sollte die bereits jetzt schon in Europa wirkenden fundamentalistischen Zellen besser kontrollieren (wie z.B. Frankreich und die Niederlande dies tun). Sie können dank der Unterstützung der AKP nun ungehindert wirtschaftlich, soziologisch, paedagogisch und politisch agieren. Die Nur - Sekte und deren Wirtschafts- und Bildungseinrichtungen hier inder BRD sind hier besonders zu erwaehnen. Die Leuchtturm e.V. Spendenaffaere sieht die deutsche Staatsanwaltschaft lediglich für den deutschen Teil als abgeschlossen angesehen. Doch die Drahtzieher des Ganzen, so die Richter 'sitzen in Ankara' und in der AKP-Regierung.


Was sagte Erdoğan einmal in einer seiner berühmten Reden, als er noch vor 15 Jahren zu Füssen des Talibanführers Hikmetyar sass?
"Die Demokratie ist nicht ein Ziel, sie ist nur ein Werkzeug".